Kadem Köln e.V.

 


 

Neuigkeiten


Zurück zur Übersicht

10.12.2018

Dschalaluddin RUMI Das MESNEVI

Das Lied der Rohflöte

Hör auf die Flöte — wie sie erzählt, wie sie klagt über Trennung und spricht:

«Seit man mich vom Röhricht schnitt, weinen Mann und Frau bei meiner Klage.
Ich suche ein Herz, von Einsamkeit gequält: Dem will ich vom Schmerz der Sehnsucht erzählen.

Wer weit entfernt von seinem Ursprung ist, der sehnt sich zurück nach der Zeit der Einheit.
Ich sang meine Klagen vor jedermann und gesellte mich zu
Gut und Schlecht:

Ein jeder wähnte sich mein Freund, doch keiner fand mein innerstes Geheimnis.
Dies ist nicht weit von meiner Klage — doch Aug' und Ohren fehlt das rechte Licht.
Denn auch wenn Leib und Geist einander unverhüllt sich zeigen, so darf doch kein Auge die Seele sehen!»

Der Hauch der Flöte ist Feuer — nicht Wind! Wer diese Glut nicht hat, ist besser nicht!
Die Glut der Liebe fiel ins Rohr; das Feuer der Liebe fiel in
den Wein.

Die Flöte ist dem ein Gefährte, der getrennt ist vom Freund; ihr Klang zerreißt uns die Schleier.

Wer kennt ein Gift, ein Gegengift wie sie? Wer kennt einen Freund, einen Tröster, der ihr gleicht?

Die Flöte spricht vom Weg des Blutes und von der Leiden¬schaft Madschnuns.
Nur der Narr hat dieses Wissen. Nur zu den Ohren spricht die Zunge.

Die Tage vergingen im Leid und sind zum Abend ge¬worden: die Weggefährten des Leids.
Sind die Tage gegangen, so laß sie ziehn! Doch bleibe du, o Freund, der unvergleichlich Reine!

Nur der Fisch wird des Meers nicht satt. Lang wird der Tag dem, der keinen Anteil daran hat.
Kein Roher wird den Reifen je verstehen. Da dies so ist, so soll mein Wort hier enden. Lebe wohl!
Sohn, zerbrich die Ketten, und sei frei! Wie lange noch willst du der Sklave sein von Gold und Silber?
Wieviel Wasser faßt ein Krug? Nur den Vorrat für einen Tag.Der Augenkrug der Habgier wird niemals voll. Erst die wunschlose Auster füllt sich mit Perlen.
Nur der, dessen Kleid die Liebe zerriß, ist frei von Hab¬sucht und Fehlern.
O glückliche Liebe, o großer Gewinn! Du heilst uns von allen Gebrechen.
O Heilmittel gegen Hochmut und Stolz, o unser Platon und Galen!
Die Liebe erhob den Körper aus Staub bis zu den Him¬meln, und selbst der Berg begann zu tanzen.
O Liebender, die Liebe beseelte den Sinai: Der Sinai war liebestrunken — und Moses verlor die Besinnung.

Wäre ich mit des Geliebten Lippen vereint, so sänge auch ich wie die Flöte.
Denn wer getrennt ist von dem, der seine Sprache spricht, der wird bald verstummen, auch wenn er hundert Lieder hätte.

Wenn die Rose verblüht und der Garten welkt, wird man das Lied der Nachtigall nicht mehr hören.

Alles ist der Geliebte, der Liebende ist nur der Schleier. Der Geliebte lebt, tot ist der Liebende.
Weh ihm, für den die Liebe keine Augen hat! Er ist ver¬loren wie ein Vogel ohne Flügel.
Wie könnte ich wissen, was vor mir ist, was hinter mir, gäbe es nicht das Licht des Geliebten?
Die Liebe wünscht, daß dies gesagt wird — was kann der Spiegel andres tun als widerspiegeln?
Und weshalb tut dein Spiegel dieses nicht? Weil Schmutz und Rost ihn noch bedecken.






Zurück zur Übersicht