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20.12.2016

Warum der Schleier existiert, der die Seele vom Licht trennt



»Wenn es die schattige Düsternis der körperlichen Welt nicht gäbe, erschiene mit Sicherheit das Licht des göttlichen Mysteriums in all seiner Klarheit. Wenn es die verführerische Versuchung der sinnlichen Begehrlichkeit nicht gäbe, würde sich gewiß der Schleier heben. Wenn es die irdischen Bindungen nicht gäbe, steht fest, daß sich die spirituellen Realitäten zeigen würden. Wenn es die geschaffenen Ursachen nicht gäbe, würde das Licht der göttlichen Allmacht in allem Glanz aufleuchten. Wenn es die Anstrengung nicht gäbe, ist gewiß, daß die Gnosis rein und klar wäre. Wenn es nicht den Appetit des Verlangens gäbe, ist klar, daß sich die göttliche Liebe mit aller Macht in der Seele verwurzeln würde. Wenn nicht noch einige irdische Bindungen vorhanden wären, ist gewiß, daß die leidenschaftliche Gottesliebe die Seelen verzehren würde. Wenn es seitens des Dieners keinen Mangel gäbe, würde zweifellos der Herr im Herzen bedacht. Und so wird, wenn durch irgendeinen Zufall diese Umstände entfallen und sich der Schleier hebt, wenn diese irdischen Bande zerschnitten werden und die Hindernisse beseitigt sind, das eintreten, was schon der Dichter sagte:

>Ein Geheimnis ist dir offenbart worden, das dir lange verborgen war. Eine Morgenröte glänzt, deren Nacht du selbst warst.
Ja, du selbst bist der Schleier, der deinem eigenen Herzen das Geheimnis seines Mysteriums verhüllt, denn ohne dich würde sich nicht dein Spiegel auf deinem Herzen eingraben, um es zu verschließen.
Wenn du dich aus deinem Herzen entfernst, zieht Er dort ein, und seine Zelte erheben sich auf dem Gipfel der heiligen Offenbarung.
Und es wird sich ein göttlicher Wortstrom entfalten, den anzuhören du niemals müde wirst und dessen Prosa und Verse uns unendlich begehrenswert werden“ Ibn-al-Arif Mahäsin al-majalis


Der vollkommene und universelle Mensch

Die Sufis deuten die Offenbarung so, daß die geschaffene, sinnliche Welt aus einer Gesamtheit von Schleiern besteht, die die wirkliche, unendliche Welt verhüllen. Diese Schleier stehen zwischen dem >>Wahrheitssucher<< und seinem Ziel, wie es in den eben zitierten Versen Ibn-al-Arifs zum Ausdruck kommt. Diese Schleier lassen sich in zwei Kategorien aufteilen:

Die dunklen Schleier

Dies sind die Schleier der schlechten Neigungen wie z. B. Versuchungen, Wut und Begierden. Der Sucher vermeidet diese Schleier, indem er sich an die traditionellen Tugenden hält.

Die hellen Schleier

Hierher gehören die Keuschheit, eine zu große Demut und in der Regel eine zu große Bemühung um gute Eigenschaften, durch die der Sucher allzu sehr von seiner Suche abgelenkt wird, so daß er am Ende ihr wirkliches Ziel vergißt. Auch vor diesen Schleiern muß sich der Sucher hüten und darf nur ein Ziel haben: die Einheit des Seins.
Diese Schleier sind die ersten Hindernisse, die der Mensch zu überwinden hat. Wenn ihm dies gelingt, hat er die »untere Stufe« der Heiligkeit erreicht, von der aus er langsam biszu den drei Prüfungen der Einheit aufsteigt. Danach wird ihm der Grad der >>höheren Heiligkeit« zuerkannt die Vollkommenheit, die die Eigenschaft des ursprünglichen Menschen ist.
Die Doktrin der Einheit des Seins und die des vollkommenen Menschen haben beide ihren Ursprung in der Schöpfungsversion des Korans. Nach dem Koran und der Henneneutik der Sufis wollte sich Gott, indem er die Welt erschuf, selbst vor Augen führen. Der Prophet berichtet folgendes Wort Allahs: »Ich war ein verborgener Schatz. Ich wollte erkannt werden, und so schuf ich die Welt.« Gott wollte den Wesenskern seiner vollkommenen Namen sehen, mit anderen Worten seine eigene Essenz, und zwar in Form eines globalen Objektes, welches mit Existenz ausgestattet ist und die ganze göttliche Ordnung enthält. Dies wollte er, um sich sein Mysterium selbst zu offenbaren. Zuerst schuf er die Welt als eine amorphe Sache, ohne jeglichen Geist, »vergleichbar einem noch nicht gesäuberten Spiegel«. Danach schuf er den Menschen, um diesen zugleich zu einem Vertreter seiner selbst und zu einem Spiegel zu machen, in dem er die Vollkommenheit seiner Eigenschaften betrachten kann.
Im Kapitel 95 des Korans steht, daß der Mensch in den allerbewundernswertesten Proportionen (ahsan taqwim) geschaffen, danach jedoch auf die unterste Stufe der Leiter hinabgeworfen wurde (asfal säfilin)! Das ist der Zeitpunkt, da die Schleier aufgetaucht sind, die ihm seitdem die göttliche Welt und deren wahre Natur verbergen.
Der Ausdruck ahsan taqwim impliziert nicht nur, daß der Mensch der oberste Gipfel der Schöpfung ist, sondern auch, daß er in sich alle Wahrheiten vereinigt, die das Wesen des Universums ausmachen. Gott hat ihn somit als eine Synthese aller anderen geschaffenen Naturen konzipiert, als seine eigene innere »Form«. Ibn-Arabi erklärt, daß der Mensch für Gott das ist, was die Pupille für das Auge ist, da Gott durch ihn seine Schöpfung betrachtet und ihn seiner Barmherzigkeit teilhaftig werden läßt: »So ist der Mensch«, sagt er, »zugleich flüchtig und ewig, ein geschaffenes und zugleich unaufhörliches und unsterbliches Wesen, ein unterscheidendes und zugleich einigendes Wort. Durch seine Existenz wurde die Welt vollendet.«
Silvestre de Sacy schrieb Anfang des letzten Jahrhunderts über diese Auffassung des Menschen als Logos: »Der Vollkommene Mensch ist die Vereinigung aller göttlichen und natürlichen, universellen und partiellen Welten. Er ist das Buch, in dem alle göttlichen und natürlichen Bücher zusammengefaßt sind. Aufgrund seiner Vernunft und seines Intellekts ist es ein vernünftiges Buch mit dem Namen >Mutter des Buches<, was ein koranischer Ausdruck für den himmlischen Prototyp aller offenbarten Bücher ist, göttlicher Geist, nach Jorjanî der Ursprung aller Intelligenz. Aufgrund seines Herzens ist es das Buch der wohlgehüteten Tafel. Aufgrund seiner Seele ist es das Buch der ausgelöschten Dinge und der geschriebenen Dinge: er selbst stellt diese ehrwürdigen, erhabenen, reinen Pergamente dar, die nicht berührt und nicht verstanden werden dürfen, außer von jenen, die sich von den dunklen Schleiern gereinigt
haben“
Zitiert von E. Dermenghem in »L'Eloge du Vin«



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