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07.10.2016
Annemarie Schimmel Mystische Dimensionen des Islam/ Der Pfad
Es war einfach für den Asketen, Dinge aufzugeben, die das islamische Gesetz für zweifelhaft erklärt hatte; doch die Tendenz, sich selbst solcher Dinge zu enthalten, die die Gemeinschaft der Gläubigen für erlaubt erachtete, konnte manchmal geradezu groteske Formen annehmen. Fromme Frauen mochten nicht im Lichte der Kerze einer Nachbarin spinnen; ein Mystiker, dessen einziges Schaf zufällig auf dem Rasen eines Nachbarn gegrast hatte, trank dessen Milch nicht mehr, da sie nach einem solchen >Übergriff< nicht mehr legal sei, usw. Speise oder irgendetwas anderes, das der herrschenden Klasse zugehörte oder von ihr kam, wurde als suspekt angesehen. Bekanntlich weigerten sich in alter Zeit die meisten frommen Gelehrten, Regierungsämter anzunehmen, und auch später waren die Beziehungen zwischen den Sufis und den Herrschern oftmals kühl, ja gespannt; denn die Mystiker waren nicht daran interessiert, irgendwelche Beziehungen zu haben, die ihre reinen Intentionen beflecken könnten. Aus diesem Grunde wird in Anekdoten, in Gedichten und vor allem in ‘Attars Epen der Derwisch oft zum Mundstück sozialer Kritik gemacht: er kann seinen Finger auf die Wunden der Gesellschaft legen und auf die korrupten Zustände hindeuten.
Hujwiri erzählt eine Geschichte, die offenbar typisch für Überlegungen hinsichtlich der Entsagung und des >Essens des Erlaubten< in der Frühzeit ist. Er berichtet sie allerdings in Verbindung mit dem Problem, ob ein Mystiker heiraten solle oder nicht (er ist für die zweite Lösung), doch die Anekdote zeigt eher noch die übertriebene Enthaltsamkeit und die Strafe, die einem einzigen Moment der Nachlässigkeit folgen kann: Eines Tages, als Ahmad ibn Harb mit den Führern und Notabeln von Nishapur zusammensaß, die ihm ihre Verehrung bezeigen wollten, kam sein Sohn ins Zimmer, betrunken, Laute spielend und singend und ging vorbei, Unverschämt, ohne ihrer zu achten. Ahmad bemerkte, dass sie entsetzt waren und fragte: »Was ist los?« Sie antworteten: »Wir schämen uns, dass dieser Bursche so an Euch vorbeigeht.« Ahmad sagte: »Ich kann ihn entschuldigen. Eines Nachts aßen meine Frau und ich Speise, die man uns aus einem Nachbarhaus gebracht hatte. In dieser Nacht wurde dieser Sohn gezeugt, wir schliefen ein und Vernachlässigten unsere religiösen Übungen. Am Morgen fragten wir unseren Nachbarn, wo das Essen hergekommen sei, das er uns geschickt hatte, und wir entdeckten, daß es von einem Hochzeitsfest im Hause eines Regierungsbeamten kam«. In späteren Sufi-Texten wird weniger Wert auf zuhd gelegt als auf dessen negatives Gegenstück, hirs, Gier, eine Eigenschaft, die sowohl der Entsagung wie der wahren Armut entgegengesetzt ist. Die persischen Dichter haben nie aufgehört, ihre Leser vor jener Gier zu warnen, die >ein Drachen, und nicht etwas Kleines< ist . Diese Eigenschaft fand sich, wie die Geschichte zeigt, nicht nur bei weltlichen Führern, sondern auch bei Vielen derer, die behaupteten, den höchsten geistigen Rang erreicht zu haben, und die ihre äußere Enthaltsamkeit benutzten, um ihre innere Gier zu verdecken. Der zâhid-i zâhirparast, der >Asket, der noch immer äußere Dinge anbeten, d.h. der die innere Selbstlosigkeit und liebende Hingabe noch nicht erreicht hat, wird in manch einem persischen Vers lächerlich gemacht. Das Vorwärtsschreiten auf dem Pfade, das von Reue und Enthaltsamkeit eingeleitet wird, besteht aus ständigem Kampf gegen die nafs, die >Seele<, das niedere Selbst, die niedrigen Triebe oder das, was wir im biblischen Sinne als >das Fleisch< übersetzen können. Der Gläubige war im Koran ermahnt worden, »den Ort seines Herrn zu fürchten und die nafs an der Lust zu hindern« (Sura 79/40). Denn die nafs ist die Ursache für tadelnswerte Handlungen, Sünden und niedere Eigenschaften, und der Kampf mit ihr wird von den Sufis als der >Größere Heilige Krieg< bezeichnet, denn »der schlimmste Feind, den ihr habt, ist (die nafs) zwischen euren Seiten«, wie das hadith sagt.
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