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07.10.2016
Annemarie Schimmel-Mystische Dimensionen- Teil5
Diese Tradition überaus verfeinerter, oft kaum zu enträtselnder persischer Dichtung war der Boden, dem Shah Sa‘dullah Gulshan entstammte. Er entdeckte rasch die dichterische Kraft seines neuen, Urdu schreibenden Schülers Wali. Und in wenigen Jahren wurde es in Delhi modern, die bis dahin verachtete Umgangssprache, rêkhta oder Urdu, für dichterische Zwecke zu benutzen. In erstaunlich kurzer Zeit wurden vollendete poetische Werke in dieser Sprache geschrieben, die nun von den Dichtern gern statt des bis dahin üblichen Persischen verwendet wurde. So war der Zusammenbruch des Moghulreiches von einem Zusammenbruch der traditionellen poetischen Sprache begleitet. Denn nicht nur breitete sich das Urdu jetzt in der Hauptstadt aus, sondern Sindhi, Panjabi und Pashto entwickelten in den letzten Dekaden von Aurangzebs Herrschaft eigene Literaturen und blühten durch das ganze 18.Jahrhundert.
Man muß sich diese Lage vor Augen halten, um die Rolle der Naqshbandis in Delhi recht zu verstehen. Zwei der >Säulen der Urdu-Dichtung gehörten diesem Orden an: Mazhar Janjanan, der erfolgreiche Ordensführer und kämpferische Gegner der Schiiten, der im Alter von 82 Jahren von einem Schiiten ermordet wurde (1781)”, und Mir Dard, der lyrische Dichter Delhis. Diese beiden Männer gehören ebenso in das Bild Delhis im 18.Jahrhundert wie Shah Waliullah (1703-62), der Verteidiger des wahren Glaubens, der in die Qadiriyya wie in die Naqshbandiyya initiiert war und dessen Gesamtwerk noch einer gründlichen Erschließung harrt. Daß er von einem Schüler Mazhars angegriffen wurde, während andere ihn tief verehrten, zeigt, daß es auch in der Naqshbandiyya in Delhi mancherlei Strömungen gab. Es war Waliullah, der den Gegensatz zwischen tauhîd-i shuhûdî und tauhîd-i wujûdi zu überbrücken suchte, ebenso wie er versuchte, die Unterschiede zwischen den Rechtsschulen als Ergebnis einer historischen Entwicklung ohne grundlegende Bedeutung zu erklären. Shah Waliullah wagte es auch, den Koran ins Persische zu übersetzen, so daß die Muslims das Heilige Buch richtig lesen und verstehen und seinen Worten entsprechend leben konnten ein Unterfangen, das seine Söhne dann in Urdu fortsetzten. Er war auch mit dafür verantwortlich, daß der afghanische Herrscher Ahmad Shah Durrani Abdali nach Indien gerufen wurde, um die Sikh und Mahrattas zu bekämpfen, die in der verwickelten politischen Lage nach dem Tode Aurangzebs sich weitgehende Vorteile über die Muslime verschafft hatten. Gleichzeitig ist sein Werk der erste Versuch, eine islamische Sozialpolitik zu entwickeln.
Von Shah Waliullah geht die mystische Kette dann weiter zu Seinem Enkel Shah Isma‘il Shahid, einem fruchtbaren SchriftStellar in Arabisch und Urdu, und zu Sayyid Ahmad von Bareilly, die beide für ihren tapferen Kampf gegen die Sikh bekannt sind, welche das ganze Panjab und Teile des nordwestlichen Grenzgebietes besetzt hatten. Der Urdu »Dichter Momin (1801-51), durch Heirat mit Mir Dards Familie verbunden, schrieb Gedichte zu Ehren der beiden genannten Reformer. Die politische Seite von Shah Waliullahs Werk hat zum Teil das moderne muslimische Leben im Subkontinent und die Haltung der Muslime gegenüber den Briten bestimmt. Seine Lehre hat in der Schule von Deoband bis heute überlebt, obgleich dort die starke mystische Tönung von Shah Walliullahs ursprünglichen Gedanken fehlt, die der Delhier Denker in komplizierter, eigenwilliger Sprache in seinen zahlreichen Werken niedergelegt hatte, wobei er seine eigene wichtige Rolle als »Vertreter des Propheten im Tadeln« hervorhob und sich einen außerordentlich hohen Rang in der religiösen Hierarchie zulegte.
Es würde lohnend sein, den Beziehungen zwischen den großen mystischen Führern in Delhi im 18.Jahrhundert im einzelnen nachzugehen. Shah Waliullah war sicherlich die stärkste und vielseitigste Persönlichkeit unter ihnen; doch scheint es ebenso interessant, einige Bemerkungen über Mir Dards Werk einzuflechten, weil er ein Vertreter fundamentalistischer Naqshbandi-Theologie war, deren Härte jedoch durch tiefe Liebe zu Musik und Dichtung gemildert wird. Erstklassiger Dichter und frommer Muslim, arbeitete er einige Naqshbandi-Lehren in recht origineller Form aus.
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