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07.10.2016
Annemarie Schimmel-Mystische Dimensionen-Teil 4
Die Raudat al-qayyümiyya ist gewiß kein solides historisches Werk”. Geschrieben zur Zeit des Zusammenbruchs des Moghulreiches, spiegelt es die Bewunderung einer gewissen Naqshbandi-Gruppe für den Meister und seine Familie wider; doch die Theorie muß ja auf bestimmten Äußerungen Sirhindis beruhen, und so wirft das Werk Licht, wenn nicht auf die Naqshbandiyya-Geschichte, so doch auf mystische Psychologie. Die Theorien über die qayyûmiyya werden jetzt gerade erst wissenschaftlich untersucht. Auch muß die Rolle der vier qayyûm für die Moghulgeschichte noch im Detail studiert werden. Es ist jedenfalls ein seltsames Zusammentreffen, daß der vierte und letzte qayyûm, Pir Muhammad Zubair (Ahmad Sirhindis Urenkel) 1740 starb, nicht lange nachdem Nadir Shah Delhi verwüstet und geplündert hatte. Die persische Invasion hatte das Moghulreich praktisch vernichtet, und nun verließ auch der >>geistige Wächter« diese Welt...
Pir Muhammad Zubair war der geistige Führer von Muhammad Nasir ‘Andalib, dem Vater von Mir Dard, dem die Urdu Dichtung ihre frühesten und gleichzeitig schönsten mystischen Verse verdankt. Wieder einmal spielte die Naqshbandiyya eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines Gebietes, an dem die Gründer des Ordens nicht interessiert waren. Denn Mitglieder der Naqshbandiyya sind eng verbunden mit dem Aufkommen der Urdu-Literatur im Norden des Subkontinents. Urdu, in der Frühform des südlichen Dakhni, war als literarisches Medium vielleicht zuerst durch Gisudaraz in Gulbarga Zu Beginn des 15.]ahrhunderts verwendet worden. Es wurde dann im späteren 15. und 16.]ahrhundert von Mystikern in Bijapur und Gujerat weiterentwickelt. Neben volkstümlicher Dichtung, die leicht von den Analphabeten und Frauen behalten werden konnte, wurden mehrere Werke über mystische Theorien in dieser Sprache verfaßt, die bald auch für profane Dichtung verwendet wurde. Das erste klassische persische Werk, das in Dakhni-Urdu übersetzt wurde, war im 17.]ahrhundert ‘Ainul Qudats Tamhidät. Die ekstatische Sufi-Dichtung in Dakhni Urdu wurde von dem liebesentrückten Siraj Aurangabadi in unvergeßlichen Versen zu ihrem Höhepunkt geführt.
Etwa gleichzeitig wanderte der größte lyrische Dichter des Südens, Wali, nach Delhi. Das war 1707, im Todesjahr Aurangzebs -ein Datum, das das Ende der ruhmvollen Moghulherrschaft bezeichnet. Denn nun fiel Dunkel über die politische Szene; Thronwirren setzten ein: die ererbten Werte wurden zerstreut, die soziale Ordnung veränderte sich, und selbst die traditionellen Formen der Sprache und Literatur wurden nicht länger bewahrt. Wali schloß sich dem Naqshbandi-Führer Shah Sa‘dullah Gulshan an, einem fruchtbaren persischen Dichter, der Musik liebte und durch seine Liebenswürdigkeit und Güte eine beachtliche Rolle in der Gesellschaft von Delhi spielte, die Poesie und Musik so goutierte. Gulshan war auch ein Freund Bedils (st. 1721), des einsamen Dichters, dessen bescheidenes Grab in Delhi nichts von dem Einfluß ahnen läßt, den seine persische Dichtung auf die afghanische und zentralasiatische, vor allem tajikische, Literatur ausgeübt hat. Obgleich Bedil offenbar keinem Orden angehörte, stand er ganz in der Tradition des mystischen Islam. Seine zahlreichen mathnawis behandeln philosophische und mystische Probleme und verbinden bemerkenswerten Dynamismus mit dunkler Hoffnungslosigkeit. Sein Lieblingswort ist skikast, >gebrochen, >Zerbrechen<-eine Haltung, mit der die Mystiker immer den Zustand ihres Herzens zu bezeichnen liebten. Bedils aus Poesie und Prosa gemischte Werke und seine Lyrik bieten große technische Schwierigkeiten für den Leser. Das Vokabular, die Symbole und Bilder, die ganze Struktur der Gedanken ist ungewöhnlich, aber außerordentlich anziehend. Die ‚stilistischen Schwierigkeiten seiner Werke werden höchstens noch von denen der Poesie seines Landsmannes Nasir Ali Sirhindi (st. 1697) übertroffen, der später im Leben Mitglied der Naqshbandiyya wurde und den Stil einiger Dichter im 18.Jahrhundert beeinflußte, ohne jedoch irgendetwas zu den mystischen Lehren seines Ordens beizutragen.
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