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07.10.2016

Annemarie Schimmel-Mystische Dimensionen/Teil 2/ Die »Naqshbandi-Reaktion«

Nicht lange Perioden der Abtötung, sondern seelische Läuterung, nicht Training der niederen Triebseele, sondern Erziehung des Herzens sind für die Naqshbandiyya-Methodik charakteristisch.

Herz ist der Name jenes Hauses, das ich erbaue, sagt Mir Dard. Viele Mitglieder des Ordens haben bezeugt, daß sie absolut sicher waren, daß ihr Pfad mit seiner genauen Einhaltung der religiösen Pflichten sie zu den > Vollkommenheiten des Prophetentums< führen würde, während diejenigen, Welche die superrogativen Werke und rauschhafte Erfahrungen vorzogen, bestenfalls die >Vollkommenheiten der Heiligkeit, erreichen konnten.

Der Orden war zunächst äußerst erfolgreich in Zentralasien so erfolgreich, daß er eine wichtige Rolle in zentralasiatischer Politik noch im 17. und frühen 18.Jahrhundert spielen konnte. In Indien gewann die Naqshbandiyya eine feste Stellung kurz vor 1600, d.h. nahe dem Ende von Akbars Herrschaft. Zu dieser Zeit zog Khwaja Baqi billah, ein nüchterner, aber inspirierender Lehrer, eine Anzahl von Jüngern an, die sich für ein gesetzestreues mystisches Leben interessierten und sich der die Grenzen verwischenden religiösen Haltung widersetzten, die in den Kreisen um Akbar vorherrschte.

Baqi billahs Jünger, Ahmad Faruqi Sirhindi (1564-1624), war dazu bestimmt, eine wichtige Rolle im indischen religiösen und zu einem gewissen Grade auch politischen Leben zu spielen”. Ahmad hatte in Sialkot studiert, das zur Moghulzeit ein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit war. In Agra kam er in Kontakt mit Faizi und Abul Fazl, Akbars Lieblingsschriftstellern und engen Freunden, die jedoch bei der Orthodoxie ihrer ketzerischen Ansichten wegen einen schlechten Ruf hatten. Ahmad Sirhindi hatte, wie eine ganze Anzahl seiner Landsleute, auch eine Abneigung gegen die Schia, der die Herrscher im Dekkan angehörten und die am Moghul-Hof in den letzten Tagen Akbars und in der Regierungszeit Jahangirs (1605-27) immer wichtiger wurde, weil dessen intelligente Lieblingsfrau Nur Jahan Schiitin war. Der ständige Zustrom von Dichtern aus Iran in Indien während der Moghulzeit stärkte das Schiar Element beträchtlich, und so waren es die Schiiten, gegen die Ahmad Sirhindi seinen ersten Traktat schrieb, noch bevor er formell in die Naqshbandiyya initiiert war, d.h. vor 1600. Später wurde er eine zeitlang in Gwalior eingekerkert, aber nach einem Jahr, 1620, freigelassen. Vier Jahre später starb er.

Obgleich Ahmad Sirhindi eine Anzahl von Büchern geschrieben hat, beruht sein Ruhm vor allem auf seinen 534 Briefen, von denen siebzig an Moghul-Beamte gerichtet sind. Wie viele Briefe mystischer Führer waren sie für Zirkulation in weiteren Kreisen bestimmt, und nur wenige waren ausschließlich für seine engsten Freunde gedacht. Er äußerte in diesen Briefen Gedanken, die manche Verteidiger der Orthodoxie schockierten, wie aus einigen Schriften ersichtlich ist, die am Ende des 17.Jahrhunderts gegen seine Lehren verfasst wurden. Die Briefe sind aus dem persischen Original ins Arabische, Türkische und Urdu übersetzt worden, und dank ihnen erhielt Ahmad die Ehrentitel mujaddid-i alf-i thânî, >Der Erneuerer des zweiten Jahrtausends< (nach der hijra), und imam-i rabbani, >Der göttlich inspirierte Führer.

In moderner Zeit ist Ahmad Sirhindi im allgemeinen als der große Lehrer dargestellt worden, der die islamische Orthodoxie gegen die Ketzereien Akbars und seinen Nachahmer verteidigt hat, als der Führer, dessen Nachfahren Aurangzeb gegen seinen mystisch gesonnenen Bruder Dara-Shikoh unterstützen. Yohanan Friedmann hat zu zeigen versucht, daß sich dieses Bild erst nach 1919 in Abul Kalam Azads Werk entwickelt habe Und dann eifrig von den indischen Muslimen, vor allem aber in Pakistan, ausgearbeitet worden sei. Es mag stimmen, daß Sirhindis direkter Einfluß auf das religiöse Leben der Moghuln nicht so stark war, wie seine modernen Anhänger behaupten; aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die Naqshbandiyya, obgleich ein mystischer Orden, immer an der Politik interessiert war, weil sie die Erziehung der herrschenden Klasse als ihre Verpflichtung ansah. Wir können daher ruhig annehmen, daß Ahmads Nachfolger nicht unbeteiligt an der politischen Entwicklung waren, die auf seinen Tod folgte, und daß diese Situation bis 1740 andauerte.

Ahmad Sirhindi ist in erster Linie als Wiederhersteller der klassischen Theologie der wahdat ash-shuhûd, >Einheit der Schau oder des >testimoniellen Monismus< gepriesen worden, der dem wie die Orthodoxen meinen »degenerierten« System der wahdat al-wujûd entgegengesetzt war. Doch das Problem kann nicht so übersimplizistisch zusammengefasst werden. M. Mole hat Ahmads Theologie sehr gut interpretiert (MM 108--110); er erklärt das tauhid-i wujûd-i als Ausdruck des ‘ilm al-yaqîn, und tauhîd-i shuhûdî als Ausdruck des ‘ain al-yaqîn, d.h. daß das erstere die intellektuelle Erkenntnis der Einheit des Seins oder vielmehr des Nicht-Existierens von irgendetwas außer Gott ist, während im tauhîd-i shuhûdî der Mystiker >mit dem Blick der Gewissheit die Einheit erfährt, aber nicht als ontologische Einheit von Mensch und Gott. Schließlich realisiert der Mystiker durch haqq al-yaqîn, dass Einheit und Vielheit verschieden und doch in geheimnisvoller Weise verbunden sind. (Das satori Erlebnis des Zen-Buddhismus entspricht dem genau: bei der Rückkehr vom Einheitserlebnis sieht er die Vielheit der Welt in verwandeltem Licht).



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