Neuigkeiten
Zurück zur Übersicht
06.09.2016
Annemarie Schimmel-Mystische Dimensionen des Islam
Die »Naqshbandi-Reaktion«
Es ist typisch für die Lage in den islamischen Ländern und vor allem im Subkontinent, daß der Kampf gegen Akbars Synkretismus und gegen die Vertreter einer mehr gefühlsbetonten Mystik wiederum von einem mystischen Orden getragen wurde, nämlich von der Naqshbandiyya.
Die Naqshbandiyya sind seltsame Karawanenführer, die die Karawane auf verborgenen Pfaden ins Heiligtum bringen sagt Jami, eines der hervorragendsten Mitglieder dieses Ordens in dessen zweiter Periode. Die Naqshbandiyya unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den meisten mittelalterlichen Bruderschaften. Der Mann, der ihr seinen Namen gab, Baha’uddin Naqshband, gehörte zur zentralasiatischen Tradition, die ihren geistigen Stammbaum auf Yusuf Hamadhani zurückführt (st.1140). Er war »der imam seiner Zeit; der einzigartige, der die Geheimnisse der Seele kannte, der das Werk kannte« (MT 219).
Hamadhanis geistige Kette ging zurück auf Kharaqani und Bayezid Bistami; diese beiden Heiligen waren im Orden immer hoch verehrt. Der Tradition nach war es auch Hamadhani, der Abdul Qadir Gilani dazu brachte, öffentlich zu predigen. Von ihm stammen zwei wichtige Traditionsketten: eine davon ist die Yesewiyya in Zentralasien, die ihrerseits die Bektashiyya in Anatolien beeinflußte. Hamadhanis erfolgreichster khalifa-neben Ahmad Yesewi -war Abdul Khaliq Ghijduwani (st. 1220), der die Lehren seines Meisters hauptsächlich in Transoxanien verbreitete. Der Pfad, den er lehrte, wurde als tariqa-yi khwâjagân, >Der Pfad der Khojas< oder >Lehrer< bekannt. Man sagt, er sei es gewesen, der die acht Prinzipien aufgestellt habe, auf denen die spätere Naqshbandiyya basiert:
1. Hûsh dar dam, >Aufmerksamkeit beim Atmen<,
2. nazar bar qadam, >seine Schritte überwachen<,
3. safar dar watan, >Reise in der Heimat<, >innere mystische Reise<‚
4. khalvat dar anjuman, >Einsamkeit in der Menge<,
5. yâd kard, >Gedenken<‚
6.bâz gard, >sein Denken kontrollieren<‚
7. nigâh dasht, >seine Gedanken überwachen<,
8. yâd dasht, >Konzentration auf Gott<.
Obgleich Baha’uddin Naqshband (st. 1390) eine formale Initiation in den Pfad erfahren hatte, wurde er doch noch durch eine unmittelbare geistige Einweihung von Ghijduwani begnadet und 'ward bald zum aktiven Führer der Khwajagan-Gruppen. Seine Haupttätigkeit war zunächst mit Bukhara verbunden, dessen Schutzheiliger er wurde. (Auch heute noch preisen in Afghanistan die Verkäufer von Rautensamen, der gegen den bösen Blick verbrannt wird, ihre Ware mit einer Anrufung von Shah Naqshband ). Sein Orden baute Beziehungen zu Kaufmannsgilden und Handelsleuten aus, und sein Reichtum wuchs gleichzeitig mit seinem geistigen Einfluß, so daß er und seine Nachfolger und Freunde den Timuriden-Hof weitgehend kontrollierten und sorgfältig die religiösen Praktiken überwachten. Fast gleichzeitig wurde der Orden außerordentlich stark politisiert.
Es könnte stimmen, daß schon im 12.Jahrhundert ein Herrscher von Kashgar ein Schüler Ghijduwanis geworden war. Die Naqshbandis hatten auch eine aktive Rolle bei den ständigen Streitigkeiten zwischen den timuridischen Prinzen gespielt. Aber erst als Khwaja ‘Ubaidullah Ahrar (1404-90) die Leitung des Ordens übernahm, wurde Zentralasien faktisch von der Naqshbandiyya beherrscht. Seine Beziehungen zu dem Timuridenfürsten Abu Sa‘id sowie zu den shaibanitischen Uzbeken wurden entscheidend für die Entwicklung zentralasiatischer Politik in der Mitte des 15.Jahrhunderts. Als sich Abu Sa‘id dann in Herat niederließ, war der größte Teil nördlich und östlich des Gebietes der Stadt unter dem Einfluß von Khwaja Ubaidullah Ahrar, der sogar im Mongolenreich Jünger hatte, weil Yunus Khan Moghul, Baburs Onkel mütterlicherseits, zu diesem Orden gehörte, deren Führer als Isban, >Sie<, bekannt waren und noch sind. Es war die Überzeugung der Khwajas, daß man, »um der Welt zu dienen, notwendigerweise politische Macht ausüben<< und die Herrscher unter Kontrolle bringen muß, so daß das göttliche Gesetz in jedem Lebensbereich durchgeführt werden kann.
Die Naqshbandiyya ist ein nüchterner Orden, der nichts für künstlerische Tätigkeiten, vor allem Musik und sama, übrig hat. Trotzdem gehörten die führenden Künstler am Herater Hof zu diesem Orden, unter ihnen Jami (st.1492), der eines seiner dichterischen Werke ‘Ubaidullah Ahrar widmete (Tubfat al-ahrar, >Die Gabe der Freien<); seine lyrische Dichtung verrät allerdings wenig von seiner engen Beziehung zur Naqshbandiyya. Sein hagiographisches Werk jedoch, die Nafahat al-uns, >Hauche der Vertrautheit<, ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte dieses Ordens im 15.Jahrhundert, aber auch eine gute Zusammenfassung aufgrund des Werkes von Abdullah-i Ansari-klassischer Sufi-Lehren. Doch die Hauptquelle für unsere Kenntnis von Khwaja Ahrars Tätigkeit ist die Rashahat ‘ain al-hayât, >Tropfen aus dem Lebenswasser< von Ali ib11 Husain-i Wa121 Kashifi, dem Sohn eines der elegantesten Prosaschriftsteller am Herater Hof. Jamis Freund und Kollege, der Minister, Dichter und Mäzen zahlreicher Künstler, Mir Al Shir Nawa’ i (st. 1501), gehörte ebenfalls der Naqshbandiyya an. Er ist der größte Vertreter der chagatay-türkischen Literatur, die er am Hofe pflegte. Damit hatte der Orden unter seinen frühen Mitgliedern zwei hervorragende Dichter, welche die spätere persische und türkische Literatur tief beeinflussten und, wie Nawa’i, aktiv am politischen Leben teilnahmen. Mehr als zweihundert Jahre später spielten die Mitglieder der ‚unkünstlerischen Naqshbandiyya eine ähnliche Rolle in Indo-Pakistan.
Ein Mittelpunkt der Naqshbandi-Erziehung ist der schweigende dhikr, als dem lauten dhikr mit musikalischer Begleitung entgegengesetzt, der so viele Menschen in anderen Orden anzog. Die zweite wichtige Eigenheit ist subbat, die intime Unterhaltung zwischen Meister und Jünger, die auf höchster geistiger Ebene geführt wird (vgl. N.387). Die enge Beziehung zwischen Meister und Jünger zeigt sich auch in tawajjuh, der Konzentration beider Partner aufeinander, die in der Erfahrung geistiger Einheit, in Wunderheilungen und vielen anderen Phänomenen resultiert (vgl. N403). Man hat gesagt, die Naqshbandis begannen ihre geistige Reise dort, wo die der anderen Orden ende-der >>Einschluß des Endes in den Anfang<< ist ein wichtiger Teil ihrer Lehre, obgleich dieser Gedanke auf den frühen Sufismus zurückgeht.
Zurück zur Übersicht
|